Friedrich Wilhelm Kuhnert, geboren 1865, nimmt eine besondere Stellung in der Geschichte der Tiermalerei ein. Er verbindet die akademischen Traditionen des späten 19. Jahrhunderts mit einer neuen, unmittelbaren Hingabe an die Wildnis. Seine erste Ausbildung erhielt er bei Paul Friedrich Meyerheim in Berlin, wo eine sorgfältige Schulung in zoologischen Details und Tieranatomie die Grundlage für Kuhnerts lebenslange Beschäftigung mit dem Tierreich legte. Meyerheim, selbst ein versierter Tiermaler, vermittelte seinem jungen Schüler die Bedeutung der direkten Beobachtung - ein Prinzip, das Kuhnert mit außergewöhnlicher Konsequenz verfolgte.
Zwischen 1883 und 1887 verfeinerte Kuhnert sein technisches Können an der Berliner Kunstakademie, insbesondere seine Fähigkeit, die Texturen von Fell und die muskulären Strukturen seiner Sujets präzise darzustellen. Die damals gängige klassische Ausbildung hätte ihn auf die Konventionen der Ateliermalerei beschränken können, doch Kuhnerts unruhige Neugier führte ihn bald weit über das Atelier hinaus.
Entscheidend für Kuhnerts künstlerischen Werdegang waren seine ausgedehnten Reisen, vor allem seine vier Expeditionen ins Herz Zentralafrikas. Zu einer Zeit, als diese Region von europäischen Augen weitgehend unerschlossen war, war Kuhnerts Entschlossenheit, die Tierwelt in ihrem natürlichen Lebensraum darzustellen, bahnbrechend. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, die sich auf Zoos oder Präparate verließen, tauchte Kuhnert in die Landschaften und Atmosphären ein, die seine Sujets bewohnten. Die Pleinair-Malweise, von den Impressionisten übernommen, verlieh seinen Bildern eine Lebendigkeit, die sie von den eher statischen, oft rein taxonomischen Studien der akademischen Tiermalerei abhob.
Der zeitgenössische Schriftsteller und Naturforscher J. G. Millais erkannte Kuhnerts Leistungen an und lobte die Authentizität seiner Löwen, Elefanten, Zebras und Antilopen. Millais’ Bemerkung, Kuhnert habe sich „gleichsam in die Haut des afrikanischen Lebens“ hineinversetzt, trifft das Wesentliche seines Schaffens. Seine Leinwände hielten nicht nur das Aussehen der Tiere fest; sie vermittelten die Hitze, den Staub und die schwer fassbare Präsenz der Wildnis - eine Präsenz, die die europäische Vorstellungskraft an der Schwelle zum 20. Jahrhundert tief berührte.
Kuhnerts Werk ging über die Staffelei hinaus. Seine Illustrationen für Werke wie Brehms Tierleben demonstrierten eine seltene Harmonie zwischen künstlerischer Vision und wissenschaftlicher Genauigkeit. Diese Doppelrolle - Künstler und Naturforscher - stellte Kuhnert in eine Reihe mit den „Großen Vier“ der Tiermalerei: Carl Rungius, Bruno Liljefors und Richard Friese. Jeder von ihnen brachte seine eigenen Sichtweisen ein, doch Kuhnerts Afrika-Reisen verliehen seinem Werk eine Unmittelbarkeit, die unter seinen Kollegen wohl einzigartig war.
Heute sind seine Gemälde in Sammlungen vertreten, die sowohl sein künstlerisches Schaffen als auch seinen Beitrag zur Naturgeschichte würdigen. Institutionen wie das Metropolitan Museum of Art, das National Museum of Wildlife Art in Jackson Hole, das Natural History Museum in London und die Alte Nationalgalerie in Berlin bezeugen die bleibende Relevanz seines Werks. Die Berliner Ausstellung „Kuhnert unter Löwen“ von 2015 und die Retrospektive 2019 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt markierten bedeutende Neubewertungen seines Erbes und festigten seinen Rang als Künstler und Dokumentarist der Wildnis.
Kuhnerts Leben, geprägt von wissenschaftlichem Forscherdrang und künstlerischer Leidenschaft, zeigt einen Künstler, der sich den Grenzen seiner Zeit nicht beugte. Sein Werk lädt uns noch immer ein, in die Landschaften der Vergangenheit zu blicken und, wenn auch nur flüchtig, die unerschlossenen Gebiete zu erahnen, die einst jenseits der europäischen Landkarten lagen.